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Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes: Ein Blick in die Nachlasssammlung des IfZ-Archivs
ifzinfra.hypotheses.orgHeute vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, verkündete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Das IfZ-Archiv verwahrt die Nachlässe von mehreren Personen, die als Mitglieder des Herrenchiemseer Verfassungskonvent bzw. des Parlamentarischen Rates maßgeblich an der Entstehung des Grundgesetzes beteiligt waren. Der Geburtstag des Grundgesetzes gibt uns Gelegenheit, diese Nachlässe, und die Personen dahinter, etwas näher vorzustellen. Von der Herreninsel in die Pädagogische Akademie Als der Parlamentarische Rat erstmals am 1. September 1948 in Bonn zusammentrat, begannen die Debatten um die Ausgestaltung des westdeutschen Staates nicht bei null. Die Grundlagen der Verfassungsarbeit waren im August 1948 auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee gelegt worden, wo sachverständige Verwaltungsjuristen und Politiker (ja, es waren tatsächlich ausschließlich Männer in Herrenchiemsee dabei) mit Erfahrungen aus der Weimarer Republik programmatische Überlegungen zur künftigen staatlichen Struktur Deutschlands angestellt hatten. In nur 14 Tagen hatten sie konkrete Vorschläge erarbeitet, die dem Parlamentarischen Rat nun als Beratungsgrundlage dienten und von denen viele direkt ins Grundgesetz einflossen. Mit dem zunächst bewusst als Provisorium definierten Grundgesetz ist es den Vätern und Müttern der bundesdeutschen Verfassung gelungen, frühere demokratische Ansätze von 1848 und 1919 fortzuentwickeln und dabei die notwendigen verfassungspolitischen Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Machtmissbrauch durch die Nationalsozialisten zu ziehen. Das Grundgesetz erweist sich seit nunmehr 75 Jahren als stabile wie anpassungsfähige Basis der deutschen Demokratie. Quellen zur Demokratiegeschichte: Nachlässe von Vätern – und einer Mutter – des Grundgesetzes im IfZ-Archiv Anton Pfeiffer: Der Föderalist Da ist zuallererst der Nachlass von Anton Pfeiffer, CSU, zu nennen. Der gebürtige Pfälzer (1888-1957) ist als Generalsekretär und Landtagsabgeordneter der Bayerischen Volkspartei (BVP) schon in der Weimarer Republik an Verfassungsfragen interessiert und erarbeitet sich in den 1920er Jahren profunde Kenntnisse des Verfassungsrechts. In der Endphase der Weimarer Republik ist sein Verhältnis zum Nationalsozialismus ambivalent. Nach kurzer Schutzhaft 1933 und dem Verlust aller politischer Ämter, lebt er während des NS-Regimes von der Öffentlichkeit zurückgezogen in München, wo er als Lehrer tätig ist. Nach Kriegsende kann Pfeiffer jedoch rasch an seine frühere politische Laufbahn anknüpfen. Er ist Mitbegründer der Münchner CSU und beteiligt sich als Mitglied der verfassungsgebenden Landesversammlung an der Ausarbeitung der bayerischen Verfassung. Im Sommer 1945 wird er Leiter der bayerischen Staatskanzlei. In den zwischen 1946 und 1948 immer virulenter werdenden Debatten um ein künftiges (west)deutsches Staatswesen tritt er, anknüpfend an seine Weimarer Erfahrungen, für einen starken Föderalismus ein. Vom 10. bis 23. August leitet Pfeiffer den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Er kann sich dabei so profilieren, dass die CDU/CSU-Fraktion ihn wenig später im Parlamentarischen Rat zu ihrem Fraktionsvorsitzenden wählt. Pfeiffer gehört neben dem Hauptausschuss auch dem Ausschuss für Grundsatzfragen und dem Ältestenrat an. In Abstimmung mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard setzt er sich weiterhin gegen zentralistische Tendenzen und für eine verfassungsrechtliche Stärkung der Länder ein. Obschon mit dem Endergebnis der Verfassungsgebung nicht unzufrieden, stimmt Pfeiffer bei der abschließenden Abstimmung im Parlamentarischen Rat schließlich gemäß der CSU-Parteilinie gegen das Grundgesetz. Bei der ersten Bundestagswahl verfehlt er den Einzug in den Bundestag und wird stattdessen zum Generalkonsul bzw. Botschafter in Brüssel berufen. Der Nachlass, den das IfZ 1989 von Anton Pfeiffer jun. erhält, umfasst neben persönlichen Unterlagen und Korrespondenz Pfeiffers rund 30 Archivalienbände zum Herrenchiemseer Verfassungskonvent und zum Parlamentarischen Rat, darin u.a. Protokolle, Briefwechsel mit der bayerischen Staatskanzlei, Kurzprotokolle und Schriftwechsel zur Arbeit der Ausschüsse. Walter Strauß: Der Experte für Verfassungs- und Verwaltungsfragen Ebenfalls einschlägig ist der umfangreiche Nachlass von Walter Strauß, CDU. Strauß (1900-1976) promoviert 1927 zum Thema “Das Problem der Verfassungsänderung nach der Weimarer Reichsverfassung” und ist ab 1928 Hilfsreferent im Reichswirtschaftsministerium. 1934 wird er aufgrund seiner jüdischen Herkunft in den Ruhestand versetzt. Seine Eltern werden 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Walter Strauß entgeht der Deportation als Partner einer “privilegierten Mischehe”. Selbst christlich erzogen, unterhält er enge Kontakte zur Bekennenden Kirche und engagiert sich für die Auswanderung “nichtarischer” Christen. Nach Kriegsende ist Strauß Gründungsmitglied der Berliner CDU. Im Sommer 1946 wird er als Staatssekretär ins hessische Staatsministerium berufen. 1947 bis 1949 ist er stellvertretender Direktor der Wirtschaftsverwaltung und Leiter des Rechtsamts in der Bizone. Im Sommer 1948 wählt ihn der Hessische Landtag in den Parlamentarischen Rat. Strauß ist Mitglied des sogenannten Kombinierten Ausschusses, in dem vor allem die Organisation des Bundes behandelt wird, wobei die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern einen der größten Streitpunkte im Parlamentarischen Rat bildet. Außerdem ist Strauß Mitglied im Ausschuss für Verfassungsgericht und Rechtspflege. Der Ausschuss schafft neben dem Bundesverfassungsgericht auch die oberen Bundesgerichte. Die Ausschussmitglieder bemühen sich, Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen und stellen wichtige Weichen für die Schaffung stabiler Regierungen und geeigneter Kontrollorgane. Große Teile seiner Unterlagen zum Konvent von Herrenchiemsee und zum Parlamentarischen Rat übergibt Walter Strauß selbst in den 1960er Jahren dem IfZ. Nach seinem Tod folgen weitere umfangreiche Nachlassteile. Der Bestand gehört zu den umfangreichsten Nachlässen des IfZ. 69 der insgesamt knapp 400 Archivalienbände enthalten Unterlagen zum Herrenchiemseer Verfassungskonvent sowie stenographische Berichte, Tagesordnungen, Änderungsanträge, Entwürfe, Korrespondenz und Denkschriften aus der Arbeit des Parlamentarischen Rates. Helene Weber: Christlich-konservative Streiterin für Gleichberechtigung und Elternrecht Mit dem Nachlass von Helene Weber, CDU (1881-1962) ist auch eine der vier weiblichen Abgeordneten des Parlamentarischen Rats im IfZ-Archiv vertreten. Weber studiert von 1905 bis 1909 Geschichte, Philosophie, Romanistik und Sozialpolitik und leitet ab 1916 die neu eröffnete Soziale Frauenschule des Katholischen Deutschen Frauenbundes in Köln. Ab 1916 steht sie außerdem dem Verein der katholischen Sozialbeamtinnen vor. Weber nimmt 1919 für die Zentrumspartei an der verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar teil und gehört damit zu den wenigen Mitgliedern des Parlamentarischen Rats, die bereits an der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung beteiligt waren. 1920 bis 1922 ist sie Mitglied des preußischen Landtags und ab 1924 Reichstagsabgeordnete. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialismus ist sie außerdem als Ministerialrätin im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt tätig. Sie engagiert sich sowohl national als auch international in der katholischen Frauenbewegung. Im März 1933 stimmt sie trotz persönlicher Bedenken für das “Ermächtigungsgesetz”. Dennoch wird sie wenig später wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ aus dem Staatsdienst entlassen. In den folgenden 10 Jahren ist sie im Fürsorge- und Caritasdienst in Berlin tätig. Nach Kriegsende schließt Weber sich der nordrhein-westfälischen CDU an und wird Abgeordnete des Landtags, der sie 1948 in den Parlamentarischen Rat entsendet. Sie ist die einzige Frau in der Unionsfraktion, Schriftführerin des Präsidiums, Mitglied im Ausschuss für Grundsatzfragen sowie Teil des Redaktionsausschusses für die Formulierung der Präambel. Im Grundsatzausschuss werden, stärker als in allen anderen Ausschüssen, kontroverse Themen behandelt. Unter diesen Themen sind die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie das Elternecht Helen Weber ein großes Anliegen. Sie setzt sich besonders vehement für die Zulassung von Privatschulen und insbesondere Bekenntnisschulen in kirchlicher Trägerschaft ein. Bei der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag erhält Helene Weber das Mandat im Stimmkreis Aachen Stadt, den sie bis 1962 vertritt. Ihr frauenpolitisches und soziales Engagement setzt sie u.a. als Vorsitzende der Frauenunion und im Kuratorium des Müttergenesungswerks fort. Nach Webers Tod vermittelt Ministerialrätin Louise Bardenhewer den schriftlichen Nachlass dem Institut für Zeitgeschichte. Der Bestand, der fast ausschließlich Unterlagen aus Webers politischer und sozialer Tätigkeit nach 1945 enthält, besteht aus knapp 50 Bänden. In sechs Bänden finden sich hier neben Drucksachen und Grundgesetzentwürfen des Parlamentarischen Rats auch Korrespondenzen Webers mit kirchlichen Würdenträgern, Verbänden und Einzelpersonen zu kritischen Fragen der Verfassungsdebatte. Hier finden sich besonders viele Schreiben zu den Fragen von Elternrecht und Gleichberechtigung. Auch mehrere Manuskripte Webers zu diesen Fragen sind im Nachlass enthalten. Fritz Eberhard: Kämpfer für Glaubens-, Meinungs- und Informationsfreiheit Schließlich befindet sich auch der Nachlass von Fritz Eberhard, SPD, im IfZ-Archiv. Fritz Eberhard (1896-1982) kommt als Hellmuth Freiherr von Rauschenplat in Dresden zur Welt. Er nimmt am ersten Weltkrieg teil, promoviert anschließend in Staatswissenschaft. 1921 wird er Mitglied des Internationalen Jugendbundes, 1926 tritt er dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) bei. Eberhard ist als Lehrer für Volkwirtschaftslehre tätig, schreibt aber auch politische und wirtschaftswissenschaftliche Beiträge für deutsche und englische Zeitungen. 1932 gibt er seine Lehrtätigkeit auf und wird Redakteur der ISK-eigenen Tageszeitung “Der Funke” in Berlin. 1933 geht er in den Untergrund. Unter dem Decknamen Fritz Eberhard leistet er Widerstand gegen das NS-Regime: Er arbeitet am Aufbau sozialistischer Zellen in den Fabriken und ist mit der Leitung illegaler Gewerkschaftsorganisationen in Deutschland beschäftigt. Als er ins Visier der Gestapo gerät, flieht Eberhard über die Schweiz nach Großbritannien. Im Londoner Exil beschäftigt er sich unter anderem mit Fragen der politischen Umerziehung in Deutschland nach dem Krieg. Außerdem schreibt er für verschiedene Zeitungen. Bereits im April 1945 kann Eberhard nach Deutschland zurückkehren. Nach Kriegsende engagiert er sich in der politischen Bildungsarbeit in Württemberg-Baden. Er ist als Programmberater für Radio Stuttgart tätig und Mitherausgeber der Stuttgarter Rundschau. Er tritt in die SPD ein, der er bereits in den 1920er Jahren kurzzeitig angehört hatte, und kandidiert 1946 erfolgreich für den Landtag von Württemberg-Baden. 1947 wird er Staatssekretär des Staatsministeriums und Leiter des Deutschen Büros für Friedensfragen. Im September 1948 wird Eberhard Mitglied des Parlamentarischen Rats. Er gehört dem Ausschuss für das Besatzungsstatut an und nimmt regelmäßig an Sitzungen des Ausschusses für Grundsatzfragen und des Hauptausschusses teil. Eberhard tritt insbesondere für eine völkerrechtsfreundliche Ausgestaltung des Grundgesetzes und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein. Als Vertreter Württemberg-Badens im Parlamentarischen Rat fungierte er ferner als Kontaktperson in der Frage einer Kandidatur Stuttgarts als Sitz der provisorischen Bundeshauptstadt. Im September 1948 wird Eberhard Mitglied des Parlamentarischen Rats. Er gehört dem Ausschuss für das Besatzungsstatut an und nimmt regelmäßig an Sitzungen des Ausschusses für Grundsatzfragen und des Hauptausschusses teil. Eberhard tritt insbesondere für eine völkerrechtsfreundliche Ausgestaltung des Grundgesetzes und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein. Nachdem seine Kandidatur zum ersten Deutschen Bundestag scheitert, wird er im September 1949 Intendant des Süddeutschen Rundfunks. In den 1960er Jahren wirkt er außerdem als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. 1972 vertraut Fritz Eberhard seine Papiere aus den Jahren 1924 bis 1945 sowie Unterlagen zur Tätigkeit bei Radio Stuttgart bzw. beim Süddeutschen Rundfunk, im Deutschen Büro für Friedensfragen, im Parlamentarischen Rat und für SPD und Gewerkschaften von 1945 bis 1958 dem IfZ-Archiv an. 1988 übergeben die Erben von Fritz Eberhard weitere Nachlassteile dem Institut. Der Nachlass umfasst knapp 180 Bände. Detaillierte Findbücher Die Nachlässe von Fritz Eberhard, Anton Pfeiffer, Walter Strauß und Helene Weber geben vielfältige Einblicke in die Entstehung unseres Grundgesetzes. Sie bieten eine Fülle von Quellen zu demokratiegeschichtlichen, verfassungsgeschichtlichen oder kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Weitere Anknüpfungspunkte bieten außerdem die Nachlässe von Wilhelm Hoegner, der maßgeblichen Anteil an der Entstehung der bayerischen Verfassung hatte, und Theo Kordt, der für das Land Nordrhein-Westfalen am Verfassungskonvent von Herrenchiemsee teilnahm. Und auch in zahlreichen anderen Beständen gibt es Unterlagen zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und Querverbindungen zu den daran beteiligten Personen und Organisationen. Wer jetzt neugierig geworden ist und mehr erfahren möchte, ist eingeladen, einen Blick in die detaillierten Nachlass-Findbücher zu werfen und sich die Unterlagen im IfZ-Archiv selbst anzusehen: Diesen Blogbeitrag zitierenEsther-Julia Howell, IfZ-Archiv (2024, 23. Mai). Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes: Ein Blick in die Nachlasssammlung des IfZ-Archivs. IfZ-Infrastruktur. Abgerufen am 23. Mai 2024, von https://ifzinfra.hypotheses.org/6067
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