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    2 months ago

    Bevor es gleich um das Ende der Welt gehen wird, kurz ein paar Worte zu der badischen Statistik-Firma Media Control. Dieses Unternehmen verfolgt seit vielen Jahrzehnten, welches Buch sich in welchem Laden wie häufig verkauft, und stellt die Daten dann seinen Kunden zur Verfügung, vor allem Verlagen und Buchhandlungen. Verleger können auf Basis dieser Daten zum Beispiel kalkulieren, welcher Vorschuss für das nächste Buch eines Autors nach allen Regeln der kaufmännischen Vernunft ungefähr ratsam wäre. Buchhändler können überschlagen, wie viele Exemplare eines bestimmten Buches sie zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Lager haben sollten.

    Zum Jahreswechsel wird Media Control seinen Kunden nun ein neues Instrument namens „Demandsens“ zur Verfügung stellen, das man für badische Verhältnisse geradezu emphatisch als Quantensprung beschreibt: Demandsens soll in der Lage sein, die Verkäufe eines Buches mit einer durchschnittlichen Trefferquote von 85 Prozent vorauszusagen, in einzelnen Bereichen sogar zwischen 95 und 99 Prozent. Big-Data-Analyse soll jetzt die Zukunft jedes Buches vorhersagbar machen

    Man gibt also einfach die ISBN ein – eine Art Seriennummer, über die jedes Buch verfügt – und die Maschine errechnet, ob man in den nächsten Monaten beispielsweise mit 3000, 30 000 oder 300 000 verkauften Exemplaren rechnen darf. Schon heute verfüge man über immense Datenmengen, mit denen man über die Vergangenheit und die Gegenwart eines jeden in deutscher Sprache vorliegenden Buches sehr detailliert Auskunft geben könne, heißt es von Media Control. Mit dem neuen Big-Data-Analysetool könne man jetzt aber auch die Zukunft eines Buches in ungeahnter Präzision voraussagen.

    Das klingt zunächst einmal überaus praktisch. Ein bedeutender Kostenfaktor für Verlage sind die sogenannten Remissionen, also Bücher, die zwar gedruckt und an die Buchhandlungen ausgeliefert wurden, dort dann aber nicht verkauft werden und am Ende wieder bei den Verlagen landen. Wenn sich dieses lästige Problem endlich aus der Welt schaffen ließe, wäre eigentlich allen geholfen. Demandsens verfügt außerdem über ein Frühwarnsystem, das die Verlage alarmiert, sobald eines ihrer Bücher in den sozialen Medien trendet. Oft genug sind solche unberechenbaren Nachfrageschocks für die Kunden zur Enttäuschung und für die Verlage zum Verlustgeschäft geworden, weil die Welle längst schon wieder abgeebbt war, als man die Druckerei-Slots gebucht, die Lkws beladen und die Bücher in die Geschäfte getuckert hatte, wo sie dann ganz buchstäblich lagen wie bestellt und nicht abgeholt und sich bald wieder – siehe oben – in Remissionen verwandelten. Man arbeite daran, die Absatzchancen eines Buches nur auf Basis des Exposés zu berechnen

    Aber jedes Mal, wenn im großen Stil von der Gegenwart auf die Zukunft geschlossen wird, ergeben sich natürlich auch ideologische Fragen, die man unter anderem Frank Duscheck stellen kann, man erwischt ihn auf der Frankfurter Buchmesse. Duscheck ist Partner bei Bearingpoint, dem Beratungs- und Software-Unternehmen, das Demandsens für Media Control entwickelt hat, und dem es nun zuallererst ein wenig unangenehm zu sein scheint, dass sein Messestand in Halle 4 neben Wylie, der größten Literaturagentur der Welt, und Springer Nature, einer der größten Verlagsgruppen der Welt, vergleichsweise mickrig geraten ist. Aber das eigentliche Geschäftsfeld von Bearingpoint ist ohnehin die Zukunft und auf die wird nun auch nachdrücklich verwiesen: Wenn sich die Dinge auch für die eigene Firma so entwickelten, wie man es erwarten dürfe, könnte der Stand nächstes Jahr schon deutlich größer ausfallen.

    Der Andrang der Verlage sei jedenfalls verheißungsvoll. Und die Projekte, die man jetzt schon in der Pipeline habe, seien es auch. Heute muss man noch die ISBN eines Buches in die Maschine eingeben, um sich seine Zukunft lesen zu lassen, das heißt: Die Verträge sind geschlossen, die Planungen fortgeschritten, das Buch quasi fertig. Man arbeite aber schon daran, die Absatzchancen eines Buches nur auf Basis eines Exposés zu berechnen. Dann werden sich die Verlage die kommerziellen Aussichten eines Buches schon ausrechnen lassen können, wenn von dem Text noch keine Zeile geschrieben ist, wenn außer einem Autorennamen, einem provisorischen Inhaltsverzeichnis und einer Projektbeschreibung noch gar nichts existiert. Die Absichten der Entwickler sind erkennbar nur die besten, aber spätestens an dieser Stelle steht dann doch das Fenster zu einer dystopischen Zukunft sperrangelweit offen, von der wir heute wahrscheinlich gar keine Vorstellung hätten, wenn es die Software schon früher gegeben hätte, weil sie den avantgardistischen und zunächst wahrlich nicht verkaufsträchtigen Erzählungen von Ted Chiang, Aldous Huxley oder Ursula de Guin zu entspringen scheint. In den Verlagen wird der wirtschaftliche Druck jedenfalls groß sein, Bücher gar nicht erst herzustellen, denen ein lauwarmer Empfang am Markt prognostiziert wird.

    Die großen internationalen Verlagshäuser sind mitunter als Aktiengesellschaften organisiert und als solche den Anteilseignern zumindest in den USA schon rein gesetzlich zu Profitoptimierung verpflichtet. In diesem Umfeld Bücher zu veröffentlichen, für die man schon vorab mit 99-prozentiger Sicherheit ein Verlustgeschäft bescheinigt bekommt, verlangt einen verlegerischen Idealismus, für den es in vielen Medienkonzernen kaum mehr Anreizsysteme gibt. Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ wäre unter diesen Bedingungen genauso wenig erschienen wie die Werke Annie Ernaux’ oder Thomas Manns „Buddenbrooks“. Außer Peter Handke und Kazuo Ishiguro, die sich von Anfang an gut verkauften, hätte keiner der Nobelpreisträger der vergangenen Jahre einen Demandsens-Score bekommen, der merkantil den Aufwand gerechtfertigt hätte, seine oder ihre Bücher zu publizieren. Rein betriebswirtschaftlich gedacht, wird man sich dem Tool wohl kaum verweigern können.

    Um sich einen Begriff von der normativen Kraft zu machen, mit der Demandsens in den Buchmarkt treten wird, muss man sich vielleicht kurz vor Augen führen, dass mehr als 95 Prozent der Verlage im deutschen Sprachraum Media Control nutzen. Und dass auf all diesen Rechnern zum Jahreswechsel ein neuer Tab auftauchen und die Software von da an für alle benutzbar sein wird. Demandsens wird sofort überall sein. Und rein betriebswirtschaftlich gesehen wird es von da an kaum mehr zu verantworten sein, das Tool in die Planungen nicht wenigstens einzubeziehen. Für seine Prognosen zieht die Software Kriterien wie die Bekanntheit des Autors, die Virulenz des Themas und den vorangegangenen Erfolg ähnlicher Bücher heran. Die Software analysiere „aktuell mehr als fünf Milliarden Daten in 1,3 Sekunden“, heißt es im Branchenmagazin Börsenblatt über den neuen Boliden. Aber auch zehn Milliarden Daten in einer halben Sekunde würden das wissenschaftslogische Grundproblem nicht auflösen, das sich immer dann präsentiert, wenn man die Zukunft in den derzeitigen Kenntnisstand einzukerkern versucht: Das Neue und Ungedachte ist in diesen Daten nun einmal nicht vorhanden. Die Zukunft präsentiert sich hier immer nur als Variante des Bestehenden. Als „höchste und letzte Form des Positivismus“ hat der Marburger Philosoph Thomas Meyer den Big-Data-Kapitalismus einmal beschrieben.

    In Frankreich ist Demandsens schon eine Weile im Einsatz, dort aber unterstützt es die Verlage bislang nur in Auslieferungsfragen: Wenn man 50 000 Exemplare eines Buches verkaufen möchte, erteilt die Software Ratschläge, wie viele Exemplare jeweils über Amazon, lokale Buchhandlungen oder etwa Supermärkte verkauft werden sollten, um einen maximalen Absatz zu erzielen. Die deutsche Version geht darüber nun einen erheblichen Schritt hinaus, indem sie das Urteil des Marktes über ein Buch schon verhängt, bevor es überhaupt existiert. Und auf diese Weise jenen Prozess tendenziell verunmöglicht, den Hegel einst als „Bewegung der Substantialität“ beschrieben hat und damit den Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit, den Fortgang der Geschichte hin zum Besseren meinte.

    Die Auswirkungen dieser Software auf die publizistische Landschaft sind jedenfalls kaum überschaubar, gewiss ist nur, dass sie sämtliche Beziehungen des literarischen Lebens unmittelbar berühren wird: jene zwischen Verlagen und Agenten, Verlagen und Autoren, Vertretern und Buchhändlern und alle anderen auch. Aber da die Technik nun einmal zur Verfügung steht und auch nicht mehr ent-erfunden werden kann, ist auf einmal auch die deutsche Publizistik sehr konkret mit der alten technologie-ethischen Frage konfrontiert, wie man ihre Vorteile nutzen kann, ohne ihr destruktives Potenzial ganz zur Entfaltung kommen zu lassen. Als eine erste Warnung könnte in dieser Hinsicht Christopher Nolans Blockbuster „Oppenheimer“ über den Erfinder der Atombombe dienen, der die zweite Hälfte seines Lebens in untröstlichem Bedauern über seine Erfindung verbracht hat und über ihre zerstörerischen Kraft nie hinweggekommen ist.