Nachdenklich, scharf, mitreißend: Alt-Bundespräsident Christian Wulff lieferte bei der Demo auf dem Opernplatz in Hannover die stärkste Rede ab. Lesen Sie hier seine Worte im Manuskript.

Er bekam den vielleicht größten Applaus auf dem Opernplatz: Alt-Bundespräsident Christian Wulff (CDU). 35.000 Menschen hörten seinen Appell gegen die Rückkehr des Faschismus, vorgetragen mit lauter, zuweilen heiserer Stimme. Lesen Sie hier das Manuskript seiner Rede – es gilt das gesprochene Wort.

I. Auf den Tag genau ist heute der 82. Jahrestag der „Wannsee-Konferenz“. Der Wannsee in Berlin war ursprünglich immer ein Ort für glückliche Stunden für alle gewesen. Darüber gibt es auch einen schönen Film „Menschen am Sonntag“. Aus dem Jahr 1930. Mitgestaltet von Samuel Wilder, damals jüdischer Drehbuchautor in Berlin-Schöneberg. 1933 musste er fliehen. Wir kennen ihn heute unter dem Namen Billy Wilder als weltberühmten Regisseur. Der Name Wannsee wurde zum Symbol für die staatlich organisierte Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben, für staatlich organisierte Vernichtung, für die geplante und systematisierte Tötung der Juden Europas. Die Wannsee-Villa wurde zum Ort deutscher Schande!

Vor zwölf Jahren mußte ich in der Wannsee-Villa anläßlich des 70. Jahrestages sprechen. Die Beklemmung ist mir heute noch erinnerlich. Wozu Menschen fähig sind: Unfassbar. Ja. Wir dürfen NIEMALS wieder zulassen, dass in Deutschland über die Selektion von Menschen nach Herkunft, Aussehen, Religion, Handicap oder irgendeines Kriteriums beraten wird!

Der Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl in diesem Jahr 2024 schreibt in seinem Manifest, dass sich die „politische Rechte“ auf den „Volkssouverän“ berufe. Das klingt demokratisch wie „Alle Macht geht vom Volke aus“. Er definiert es aber völkisch: Der Staatssouverän sei NICHT identisch mit dem deutschen Staatsvolk. Genau das hatten wir vor 1945, nämlich die Differenzierung unter deutschen Staatsbürgern, die Diskriminierung, die Entrechtung, die Verfolgung, die Vertreibung bis zur Ermordung Andersdenkender, Andersgläubiger. NIE WIEDER darf rassistisches Gedankengut unser Land ruinieren!

Die AfD ist eine rechtsextreme, rassistische, gegen die Menschenwürde gerichtete Partei. Der AFD-Spitzenkandidat zur Europawahl bezeichnet die chinesische Medienzensur als Vorbild für Deutschland. Auch das hatten wir in Deutschland: Die Gleichschaltung der Medien, totale Zensur, Propagandaminister. Bücher wurden verbrannt, Kunst als entartet vernichtet und Musik verfemt. Die Menschen wurden außer Landes getrieben und im Land verfolgt, häufig gemordet. Wir dürfen NIEMALS zulassen, dass unsere Kinder wieder in Unfreiheit und Angst leben müssen!

Was schreibt Björn Höcke, der Strippenzieher und AfD-Vorsitzende in Thüringen? Ich zitiere ihn wörtlich: „Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.“ Diese Aussage ist einfach widerlich vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs in der jüngsten deutschen Geschichte.

„Das darf uns nie wieder passieren!“

II. Stefan Zweig hat wie viele beklagt, dass die Rechtsextremisten vor 1933 nicht ernst genommen, sondern eher verspottet wurden. Franz Kafka wird der Satz zugeschrieben: „Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel ist.“ Genau das darf uns NIE wieder passieren!

Ich vergesse es nie: Eine der großen Frauen des deutschen Widerstandes, Freya von Moltke, sagte mir zum Untergang der – überhaupt ersten deutschen – Demokratie von Weimar, kurz vor ihrem Tod mit fast 100 Jahren: „Was die Deutschen damals verloren hatten, war das Gefühl dafür, dass sie für ihre eigene Gesellschaft verantwortlich sind.“ In diesen Tagen machen die Menschen in Deutschland nun deutlich: Wir fühlen uns für unser Land verantwortlich!

Auch ich danke Ihnen, dass Sie alle auch hier heute Flagge zeigen! Wir alle begreifen: Europa und die Demokratie brauchen uns. Sie. Jede und jeden Einzelnen.

„Viele fürchten sich vor dem Ende des Monats“

III. Überall spüren wir Ängste und Verunsicherung. Viele fürchten das Ende der Menschheit auf diesem Planeten; viele fürchten sich eben auch vor dem Ende des Monats, weil sie nicht wissen, ob sie bis dahin über die Runden kommen. Noch so verständliche Sorgen dürfen aber nicht daran zweifeln lassen, dass wir in der Lage sind, gemeinsam und demokratisch die Zukunft zu gestalten. Selbstkritik zu eigenen Fehlern während Corona, zu Russland, Wirtschaft und Umwelt ist ebenso wichtig wie entschlossenes Handeln. Viele Menschen beklagen eine Überregulierung und Übergriffigkeit des Staates, während der Staat Pflichtaufgaben vernachlässige. Wir brauchen mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten. Das gilt für alle.

In meiner Rede vom 3. Oktober 2010, wonach „inzwischen auch der Islam zu Deutschland gehöre“, habe ich damals auch gesagt: „Es müssen sich alle an unsere gemeinsamen Regeln halten“ und „unsere Art, zu leben, akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller rechnen. Das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.“ Dies ist doch die gemeinsame Basis unseres friedlichen Zusammenlebens.

IV. Demokratie klingelt nicht, wenn sie geht! Auf einmal kann sie weg sein. Wir konnten das Sterben von Demokratien bereits beobachten. Wir alle sind gefordert, Demokratie nicht nur zu konsumieren, sondern selbst zu gestalten, demokratisch zu wählen, Position zu beziehen, unser Wissen und unsere Meinung einzubringen. Ich setze nicht gleich, aber vergleichen dürfen wir: Die Nationalsozialisten damals kamen nicht aus heiterem Himmel. Sie hatten breite und zum Teil naive Unterstützung.

Die große hannoversche Publizistin Hannah Arendt hat später immer wieder berichtet, „wie gebildete Deutsche sich vor der Machtergreifung bemühten, in Hitlers plumper Ideologie noch etwas Sinnhaftes, Raffiniertes zu sehen.“ Solche Fehleinschätzungen dürfen sich nicht wiederholen.

„Wann, wenn nicht wenigstens jetzt?“

V. Ich habe mir das Aufstehen für unsere Demokratie und gegen den Rechtsextremismus schon früher gewünscht. So erfuhren wir 2011, dass eine Bande von rassistischen Mördern durch unser Land gezogen ist, um Menschen zu töten, die nicht ihrer Vorstellung von Deutschen entsprachen. Danach passierten der Anschlag auf die Synagoge in Halle, die Morde in Hanau und die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten und immer wieder der blanke Hass, der zu Terror wurde, dem unschuldige engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger mitten unter uns zum Opfer fielen.

Wann begreifen die Verharmloser der AfD, dass diese mit ihrem Hass den Boden bereitet, dass sich Menschen in Deutschland unwohl fühlen und gefährdet sind. Wann, wenn nicht wenigstens jetzt? NIE MEHR sollen sich Menschen vor ihren eigenen Landsleuten verstecken müssen. So wie Margot Friedländer, die den Holocaust überlebte und heute mit 102 Lebensjahren in Berlin in Schulen mahnt: Seid Menschen! Lasst Euch nicht vom Bösen anstecken!

VI. Vielfalt ist gelegentlich auch anstrengend, sie fordert uns heraus, aber Vielfalt ist für unser Land extrem wichtig. Die vielen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit ihren Einwanderungsgeschichten und ihrem Beitrag für unser Land verdienen Anerkennung – von allen. Rassismus zerstört unsere offene Gesellschaft, unseren Wohlstand, unsere Zukunft. Das Gegenteil von Vielfalt ist übrigens Einfalt. Wir wollen nicht einfältig sein! Das hatten wir mit der Parole: „Du bist nichts. Dein Volk ist alles.“

Wir feiern am 23. Mai dieses Jahres 75 Jahre Grundgesetz. Ganz am Anfang steht einer der schönsten Sätze in deutscher Sprache aufgrund der Erfahrungen in der Geschichte: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Für diesen Satz kämpfen wir. Er kam nicht von allein. Und nichts ist automatisch von Dauer. Das müssen wir uns klar machen.

VII. Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde. Wir sind stark, weil wir verschiedene Meinungen, Ansichten, Menschen unterschiedlicher Herkunft wertschätzen. Den Begriff von der „Bunten Republik Deutschland“ hatte ich in meiner Antrittsrede damals als Bundespräsident von Udo Lindenberg entlehnt. Udo Lindenberg hat jüngst Folgendes anlässlich seines 75. Geburtstages gesagt: „Über den Daumen ist das hier ein verdammt cooles und tolerantes Land, in dem man viel zaubern kann. Die paar Sachen, die nicht in Ordnung sind, kriegen wir auch noch geregelt. Vor allem aber muss man reden, damit nicht so ein Vakuum entsteht, in dem der braune Müll sich immer mehr ausbreitet.“

VIII. Ja wir müssen reden. Wir müssen zuhören. Wir müssen Verbindungen auch zu denen aufnehmen, die sich eine Wahl der AfD vorstellen können. Denn: Radikale in unserem Land verwandeln Nächstenliebe in Hass, Barmherzigkeit in Wut. Wir müssen dies gemeinsam umkehren: Das wird nicht von heute auf morgen gehen! Es wird uns viel zumuten! In dem Wort „zumuten“ steckt aber auch das Wort MUT. Mut haben wir. Das spüren alle hier!

  • whome
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    10 months ago

    Ist schade, das es scheinbar sein muss. aber letztlich nimmst du mit der Formulierung einfach den what-aboutism Idioten den Wind aus den Segeln und nimmst ihnen die Möglichkeit die Diskussion so umzulenken. Ich fände es auch besser ohne aber man kann es auch als strategische Formulierung verstehen.

    • occhineri@feddit.de
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      10 months ago

      Spannender Gedanke. Das hiesse dann aber auch, dass er sich bewusst ein Schlupfloch offen hält und es damit verpasst, eindeutig Stellung gegen rechts zu beziehen. Die Reichelts dieser Welt werden auch ohne solche Floskeln aus allen Rohren schiessen.