Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es ist das der Cannabis-induzierten Psychosen und Schizophrenien. Am 12. März tauchte es in der beliebten ZDF-Talkshow auf. Was sagt die wissenschaftliche Studie wirklich?

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“Ein wesentlicher Schritt [der Therapie] besteht aber schon darin, die doppelte Belastung der Patienten zu erkennen und dabei die eine Erkrankung nicht als Sekundärfolge der jeweils anderen anzusehen. Vielmehr ist es entscheidend, das Nebeneinander der beiden Erkrankungen und die daraus resultierenden wechselseitigen Bezüge aufeinander als eigenständiges Problem zu begreifen.”

In normalem Deutsch: Man soll weder die Psychose als Folge des Substanzkonsums darstellen, noch den Substanzkonsum als Folge der Psychose. Dem widerspricht Graßnickel. Aber es kann ja sein, dass Heinz sich 2024 anders äußert als 2015, weil es inzwischen vielleicht bessere Daten gibt.

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Doch Obacht! Wegen der geringen Anzahl an Kiffern schwankt das Ergebnis mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 1,14- und 7,98-fachem Risiko. Man stelle sich vor, wie Lanz ähnlich erstaunt dazwischenruft: “Einskommaeinsvierfach!” Anders gesagt: Die Studie ist in diesem Punkt aufgrund methodischer Mängel gar nicht aussagekräftig. Auch das kann man Frau Graßnickel als Faktenfehler vorwerfen.

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Prinzipiell kann keine Beobachtungsstudie alle Faktoren berücksichtigen. Darum ist für die letztlich nur 59 in der Auswertung verbleibenden Kiffer davon auszugehen, dass diese sich auch in anderen Eigenschaften von den Tausenden Jahrgangsgenossen unterscheiden. Das übrig gebliebene 1,14- bis 7,98-fache Risiko einfach dem Cannabiskonsum in die Schuhe zu schieben, ist für eine Fernsehsendung wohlfeil. Trotzdem ist es wissenschaftlich-statistisch falsch. Auch das muss man Vanessa Graßnickel als Fehler vorwerfen.

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Wohlgemerkt, bei vier der sieben Studien ging der Cannabiskonsum sogar mit einem geringeren Psychoserisiko einher! Dieses Ergebnis ist auf Abbildung 4 der Übersichtsstudie dargestellt:

Die Autor*innen einer der besseren Studien schlussfolgern beispielsweise Folgendes. Dabei ging es, wohlgemerkt, in der Untersuchung spezifisch um Personen, die aufgrund ihrer Vorgeschichte schon ein höheres Risiko für Psychosen aufwiesen:

“Obwohl die überwiegende Mehrheit der Befragten irgendwann einmal Cannabis probiert hatte, davon mehr als die Hälfte häufig, entwickelten die meisten Teilnehmer mit Cannabiskonsum in der Vorgeschichte keine psychotische Störung. Die Wahrscheinlichkeit hierfür war auch nicht höher als bei denen, die nie Cannabis probiert hatten.”

Warum werden solche Funde in der Diskussion um das Cannabisgesetz nie berücksichtigt? Warum werden zurzeit nur “Experten” in solche Sendungen eingeladen, die Gesundheitspanik verbreiten?

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Worüber streitet man sich hier? Der Trick besteht, wie so oft, darüber, sich mit abstrusen Risiken zu überbieten, anstatt einen realistischen Blick auf die absoluten Zahlen zu werfen. Ein anderer Trick ist, den Nutzen des Substanzkonsums einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Gegen diesen müsste man ehrlicherweise die Risiken abwägen.

Wer die “schöne” Studie liest, dem fallen übrigens Lücken in der Erklärung der Abbildung auf. Das wurde auch in einem Leserbrief von anderen Forschern moniert. Die Antwort der Autoren: Es soll halt gezeigt werden, “dass Cannabiskonsum für Personen mit früheren psychotischen Erfahrungen schädlicher sein könnte.” Aha. Gut, dass wir darüber geredet haben.

  • AntonMuster
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    4 months ago

    Ich finde es ja immer wieder erschreckend, wie viele Mediziner sich zum Faktenverdrehen hinreißen lassen, wenn es nur zum eigenen Moralempfinden passt. Umso wichtiger, dass so ein Unsinn in einem renommierten Medium auseinandergenommen wird.