Habe ich einen Denkfehler, wenn ich die Information vermisse, dass nicht jeder “Besserverdiener” mit ETF-Sparplan und 4000 Euro Einkommen im Monat ein Millionär ist? Demzufolge treffen die Argumente gar nicht zu.

Volltext: Robert Habeck vor dem U-Ausschuss zum Atomausstieg am 16. Januar 2025 in Berlin Mit seinem Vorschlag, Sozialabgaben auf Kapitaleinkünfte zu erheben, trifft der Wirtschaftsminister die Mittelschicht. Es ist billig, sie immer wieder als potentielle Melkkühe vorzuführen.

Der Appell an die Neidinstinkte der Wähler ist ein bewährtes politisches Kampfmittel. Robert Habeck spricht nun von den „Millionären“, die er mit seinem Krankenkassenvorschlag treffen will. Sein Wahlkampfmanager Andreas Audretsch konkretisiert: Menschen, die ihren „Lebensunterhalt hauptsächlich aus Zinsen oder Dividenden bestreiten“. Die sollten „auch einen Beitrag leisten“, sodass „die Krankenversicherung für alle bezahlbar bleibt“.

Hilfreich wäre hier die Datengrundlage, auf der diese Idee aufbaut. 306 Milliarden Euro haben die gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2023 ausgegeben mit deutlich steigender Tendenz, wie jeder gesetzlich Krankenversicherte an seinen Beiträgen merkt.

Den drastisch steigenden Ausgaben und Sozialbeiträgen stehen die Wahlprogramme weitgehend sprachlos gegenüber. Kein Wähler möchte hören, dass er künftig mehr für Medikamente zuzahlen soll oder seine freie Arztwahl und die Zahl seiner Arztbesuche begrenzt wird. Wie willkommen ist da die Idee, das unangenehme Thema mit dem Rückgriff auf die reichen Anleger zu lösen, die hauptsächlich von Zinsen und Dividenden leben.

Doch wie viele solcher Menschen kennt Robert Habeck? Wo sieht er diese vielen Millionäre, die (fast) nur von Zinsen und Dividenden leben? Damit „die Krankenversicherung für alle bezahlbar bleibt“, müsste er schon einige Hunderttausend von ihnen aus dem Hut zaubern, die zudem noch gesetzlich krankenversichert sind und nicht ohnehin schon den maximalen Krankenkassensatz zahlen.

Jeder achte Aktionär hierzulande ist Besserverdiener mit mehr als 4000 Euro monatlichem Nettoeinkommen. Das zeigten am Mittwoch die Zahlen des deutschen Aktieninstituts. Jeder achte! Sieben Achtel sind es nicht und damit mehr als zehn Millionen Aktionäre, ETF- und Fondsbesitzer. Sie können weder von ihren Erträgen aus der Geldanlage leben, noch sparen sie in Aktien, weil sie sonst nicht wissen, wohin mit dem Geld. Sie tun dies, weil die gesetzlichen Krankenkassen ebenso dürftige Rücklagen haben wie die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung.

Wer sich nicht auf staatliche Almosen im Alter, bei Pflegebedarf und Krankheit verlassen will, versucht vorzusorgen, so gut es geht. Diese Menschen mit ihren ETF-Sparplänen sind nicht reich, und es ist billig, sie immer wieder als potentielle Melkkühe vorzuführen, nur um die Kernfrage zu umgehen, wie sich in einer alternden Gesellschaft Gesundheitskosten begrenzen lassen.

Mindestens ebenso billig ist es im Übrigen, wie Markus Söder auf die Grünen zu schimpfen und zu behaupten: „Auf schon einmal versteuertes Geld dürfen keine zusätzlichen Beiträge und Steuern erhoben werden.“

Genau das geschieht seit Jahren mit Zustimmung von CDU und CSU: Jede Ausschüttung börsennotierter Unternehmen an ihre Aktionäre erfolgt aus dem Reingewinn, der nach Steuern übrig bleibt, und er wird beim Anleger ein zweites Mal besteuert. Wer im Glashaus sitzt, sollte mit dem Steinewerfen vorsichtig sein.

  • Don_alForno@feddit.org
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    16 hours ago

    Der Appell an die Neidinstinkte der Wähler ist ein bewährtes politisches Kampfmittel.

    Ebenso wie die Diffamierung des Wunsches nach gerechterer Verteilung der Abgabenlast als “Neid”.

    Doch wie viele solcher Menschen kennt Robert Habeck? Wo sieht er diese vielen Millionäre, die (fast) nur von Zinsen und Dividenden leben?

    Schon peinlich, wie sich die FAZ hier dumm stellt . Wie viele von denen Robert Habeck persönlich kennt ist übrigens komplett irrelevant.

    Damit „die Krankenversicherung für alle bezahlbar bleibt“, müsste er schon einige Hunderttausend von ihnen aus dem Hut zaubern, die zudem noch gesetzlich krankenversichert sind und nicht ohnehin schon den maximalen Krankenkassensatz zahlen.

    Das ganze Argument fußt auf der irrigen Annahme, dass man die Beitragsbemessungsgrenzen nicht anpasst (oder sogar ganz aufhebt - mein Favorit). Wieder dumm gestellt. Auch der Flucht der Reichen aus der GKV könnte man politisch begegnen, wenn man wollte.

    Sieben Achtel sind es nicht und damit mehr als zehn Millionen Aktionäre, ETF- und Fondsbesitzer. Sie können weder von ihren Erträgen aus der Geldanlage leben, noch sparen sie in Aktien, weil sie sonst nicht wissen, wohin mit dem Geld.

    Die gleiche unfundierte Panikmache wie bei der Vermögenssteuer. Die Antwort heißt hüben wie drüben “Freibetrag”.

    Am Ende vom Tag ist es doch ganz einfach: Einkommen ist Einkommen. Warum soll die eine Art gegenüber der anderen privilegiert sein? Hier werden schon wieder die Sparer aus der Mittelschicht gegen eine gerechtere Abgabenlast für Überreiche instrumentalisiert.

    Wann bringt die FAZ eigentlich die Artikel “Friedrich Merz und das Märchen von den Steuergeschenken für alle ohne Gegenfinanzierung” und “Markus Söder und das Märchen vom nicht gewollten Atomausstieg”?

  • Zement@feddit.nl
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    16 hours ago

    Ich bin exakt diese Mittelschicht. Ich zahle gerne 30% meiner Kapitalerträge wenn das für alle gilt. Von mir aus fix 30% ohne Staffellung. Vollkommen okay. Wo muss ich unterschrieben?

  • Bender_on_Fire@lemmy.world
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    3 days ago

    Ich verstehe dieses uralte Argument des “bereits versteuerten Geldes” einfach nicht. Es geht doch um den Kapital_ertrag_, sprich Geld das neu dazugekommen ist. Sollte die Anlage mal schlecht gelaufen sein, lässt sich das auch über Verlustvorträge steuerlich geltend machen.

    Wieso soll denn bitte mit Zinsen erwirtschaftetes Geld nicht oder weniger als Geld aus tatsächlicher Arbeit versteuert werden?

    • Tartufo@lemmy.world
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      3 days ago

      Irgendwas irgendwas dieses neue Geld wurde schon in der Firma versteuert bevor es ausgeschüttet wurde, während Gehaltszahlungen die Steuerlast des Unternehmens senken, weil sie vor der Versteuerung passieren.

      Ich finde das Argument auch nicht zufriedenstellend. Aber das war die Begründung, die ich immer zu hören bekommen habe…

      Vor allem ist das aber kein Argument gegen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungsbeiträge.

  • federal reverse@feddit.org
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    3 days ago

    Habe ich einen Denkfehler, wenn ich die Information vermisse, dass nicht jeder “Besserverdiener” mit ETF-Sparplan und 4000 Euro Einkommen im Monat ein Millionär ist? Demzufolge treffen die Argumente gar nicht zu.

    Hast du nicht. Es handelt sich um eine Kampagne. Das kennen wir schon vom GEG. Dass die FAZ als zwar eher rechtes, aber einigermaßen seriöses Blatt mitmacht, ist natürlich schade.

  • TJA!@sh.itjust.works
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    3 days ago

    Ich verstehe das nicht ganz. Wenn man seinen Lebensunterhalt hauptsächlich aus Zinsen oder Dividenden bestreitet, muss man dann nicht schon eine große Menge in aktiven investiert haben? Sicherlich mehr als eine Million oder nicht? Ansonsten kommt man mit dem Ertrag doch gar nicht (lange) aus?

    • copacetic
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      3 days ago

      So grob mit 3% Auszahlung im Jahr kann man dauerhaft leben. Bei 2Mio in Aktien wären das 60.000 brutto im Jahr. Man sollte also definitiv mehr als eine Million haben, aber es braucht kein 10Mio.

  • copacetic
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    3 days ago

    Das Argument mit den Deutschen Aktieninstitut verstehe ich nicht ganz. Ideale Zielgruppe für den Vorschlag der Grünen wären eigentlich ja die 10% mit “bis unter 2000€ Nettoeinkommen” die gleichzeitig hohe Kapitelerträge haben. Es spricht doch eigentlich für den Vorschlag, wenn viele Aktienbesitzer geringes Einkommen haben.

    Eigentlich finde ich die Anteile aber ziemlich irrelevant, weil sich dort nicht ablesen lässt wie sich Einkommen und Kapitalerträge zueinander verhalten, oder hab ich was übersehen?